ISTANBUL - Melancholie des Molochs

Viel wird über Istanbul gesagt und geschrieben, die Stadt mit ihrer ein-zigartigen Lage am Bosporus zwi-schen Asien und Europa. Vieles davon ist euphorischer Schwach-sinn, buntes Geschwätz in Illustrier-ten, Reisezeitschriften und den Bordmagazinen der Fluglinien.

Da wird die Farbigkeit und das angeblich völkerverbindende Istanbuls beschworen. Klischees werden bemüht. Die „Sinnlichkeit des Orients“ treffe hier, so schwärmen die Gazetten, auf die "Ratio des Okzidents“. Dabei hat Istanbul selbst in der bitterkalten düsteren Atmosphäre seiner Wintermonate die Schönmalerei solcher Floskeln nicht nötig. Menschen mit Verstand und Auge, die hier groß geworden sind, wie der Schriftsteller Orhan Pamuk oder der Photograph Ara Güler, wissen es besser. Sie sprechen von der besonderen Melancholie Istanbuls, der Traurigkeit, der Tristesse, dem „Hüzün“ der Stadt.

   

Trotz der Schönheit ihrer Lage und ihrer historischen Gebäu-de, trotz des Reichtums, den die vielen Reichen Istanbuls un-geniert zur Schau stellen, trotz der wirtschaftlichen Entwick-lung  zu Beginn des 21. Jahrhunderts  in vielen Teilen des Landes - trotz alledem hat die Türkei ihre Underdog-Mentali-tät Europa und Amerika gegenüber nicht abgelegt. Man ist sich der vergangenen Grösse bewusst. Aber den Anschluss daran hat man noch nicht gefunden, und es ist noch ein weiter Weg dorthin.

   


  Über den Dächern von Istanbul


Die Stadt und das Meer 


  • In der 15-Millionen-Stadt Istanbul trifft nicht nur Orient auf Okzident. Hier prallt auch die tiefe Armut und Arbeitslosigkeit Anatoliens auf den Reichtum der neuen türkischen Bourgeoisie. Die alten Kirchen und Paläste, Zeugen des einstigen Osmanischen Weltreichs, sind noch da. Aber der Geist und die Zivilisation des früheren Völker- und Glaubensgemischs am Bosporus sind verschwunden. Von den einstigen christlichen Gemeinschaften, von Griechen und Armeniern hat nur ein verschwindend kleiner Teil die Unduldsamkeit und Vertreibung durch türkischen Nationalismus und Islamismus überdauert. Die grosse Vergangenheit liegt wie ein Schatten auf der Stadt.

    

    Wenn man an  an einem Frühlings- oder Sommertag eine der beiden Bosporus-Brücken überquert, ist der Anblick der Silhouette Istanbuls mit seinen Palästen, Moscheen und einstigen Kirchen einfach grosses Theater! 

    Aber der Bosporus ist eben auch eine Tankerroute mitten durch Istanbul, ein vielerorts schmuziges Gewässer, ein Windkanal, der die Kaltluft des Schwarzen Meeres gnadenlos durch die Stadt bläst. Einer Stadt, die erstickt im alltäglichen Verkehrschaos hunderttausender Autos. Die stolzen Türme und Minarette der historischen Gebäude sind eingekreist von den Einheitsbauten aus gepfuschtem Billigbeton oder protzigen Glastürmen der neuen Unternehmer-Elite. 


    Alles in allem kein Ort überschwenglicher Romantik also. Zerfall, Tristesse, schamlose Geschäftemacherei und die Narben der Geschichte sitzen tief im Mauerwerk Istanbuls. Für mich liegen Zauber und Reiz dieser aussergewöhn-lichen Stadt in zahllosen Details, dem wechselnden Licht und den Stimmungen, in die es Mauern, Strassen, Dächer, das Wasser und den Himmel Istanbuls versetzt.

            Gestern und heute auf Schritt und Tritt

    Wenn Istanbul weiss trägt  

    Vapur: Die rostigen Perlen des Bosporus

    Immer wieder aufs Neue faszinieren mich die Fährschiffe auf dem Bosporus. Die alten, traditionellen „Vapur“ wohlgemerkt, mit ihren dröhnenden Dieselmotoren und dem schwarzen Rauch, den sie aus ihren weißgelben Schornsteinen ausstossen, als wäre  das Industriezeitalter gerade erst angebrochen. Pausenlos verkehren sie zwischen dem europäischen und asiatischen Ufer der Stadt, queren die Route von hunderten von Tankern und Fischerbooten. Umweltschützer schlagen die Hände über dem Kopf zusammen bei den Abgaswerten der eisernen Ungetüme inmitten der Millionenstadt. Deutsche Sicherheitsingenieure würden ihre Anlegemanöver geradeheraus verbieten, bei denen die Istanbuler über Laufplanken - oder einfach links und rechts davon - an Bord springen.


    -


    Repariert und überholt werden die betagten Kolosse noch immer in osmanischen Senk

    gruben jahrhundertealter Schiffswerften am Goldenen Horn. Aufgebockt auf Holzböcken,

    genau so, als handle es sich noch um die hölzernen Kriegsgaleeren Sultan Süleymans des Prächtigen vor knapp 500 Jahren. Aufrecht gehalten wie anno dazumal von hölzernen Stangen, die einfach zwischen Schiffsrumpf und die antiken Mauern geklemmt werden.


    Doch die alten Dampfesel der Bosporus-Metropole werden allmählich durch neuere Modelle ersetzt. Seelenlose, moderne Kopien! Für mich jedenfalls. Ich bin verliebt in das pockennarbige Gesicht der alten Fährschiffe, das die Schweissnähte der unzähligen Eisenplatten, aus denen ihre Haut zusammengegezimmert ist, offen zur Schau trägt. Mit der hoch erhobenen Nase einer "alten Dame". Wenn der altmodisch scharf aufragende Bug dieser Schiffe einmal nicht mehr den Bosporus durchpflügen wird, dann verliert Istanbul sein Gesicht. Oder – formulieren wir es etwas vorsichtiger – einen sehr charakteristischen Teil seines Gesichts. 


         Nacht am Bosporus

    Share by: