CHRISTO am Lago Iseo

Die Idee ist faszinierend: über die Wasser des hübschen Lago Iseo spazieren, auf einem Band aus strahlendem Goldgelb. Aus der Vogelperspektive photographiert, sieht es ein-fach wunderschön aus - besonders wenn ein einsamer Christo Vladimirov Javacheff in Gummistiefeln über den Wellen wandelt und darüber in eine Kamera sinniert. Ein zu-tiefst demokratisches Art-Happening, bei dem der Maestro die Welt für zwei Wochen teilhaben lässt  an  seiner  Idee. Jedermann!  Denn Christo ist nicht  käuflich  für die, die
 

üblicherweise die Kunst unter sich aufteilen. Er hat stets abgelehnt, auch nur Teile seiner Installationen an reiche Sammler zu verkaufen. Seine Kunst ist unverkäuflich, sie ist nur für einen erhabenen Augenblick geschaffen. Eine einzigartige Momentaufnahme für die Ewig-keit. Aber in ihrer ganzen Grossartigkeit ist sie letztlich doch nur für ihn da - oder die weni-gen Menschen, die das Privileg haben, das Werk zu sehen, es zu begehen, und in angemes-sener Stille zu geniessen - bevor die Massen heranströmen.

Dann stirbt  die Idee


Hunderttausende zwängen sich an den Ort und erleben zuerst einmal alles andere, als über friedliche Wasser zu wandeln, wie einem die verführerischen Bilder der Vorberichte in Zeitschriften und Fernsehen verheissen. Schon die Anfahrt ist ein Martyrium aus Hitze, Abgasen, Warteschlangen von Autos vor den Parkplätzen, Men-schentrauben vor den Bussen und unterwegs zum Ufer des auf wunderbare Weise begehbaren Sees.  

Trotzdem zeigt sich fast jeder begeistert davon, "dabei gewesen" zu sein. Ich nicht. Wie schön wäre es, träume ich, nachts über die mit Zeltstoff aus leuch-tendem gelb drapierten Kunststoffplanken übers Wasser zu schlen-dern und die Lichter vom Ufer aufblitzen zu sehen. Aber es ist Tag, und eingezwängt zwischen Tausenden läuft man Christos einzigartige Idee ab. An beiden Seiten der Stege stehen „Bademeister“ mit Trillerpfeifen, die einem bedeuten, nicht zu nahe ans Wasser zu gehen. Rettungsschwimmer jagen in ihren Schlauchbooten im  Getöse der Aussenbordmotoren entlang

 

der künstlichen Stege im See. Sanitäter behandeln eine Frau, die aufgrund eines Hitzschlags oder an Dehydrierung zusammengebrochen ist, inmitten der Menge, die um sie herum brandet. Auf der Insel Monte Isola mühen sich Ord-ner, auf den ebenfalls gelb ausgelegten Gehwegen die dichtgedrängt hin- und zurückströmenden Menschen in halbwegs geordneten Bahnen auseinanderzu-halten. Oben in der Luft das ständige Dröhnen eines Helikopters, aus dem heraus das Geschehen überwacht oder für Christo-Dokumentationen gefilmt wird.

 

Über die Dokumentation des Kunst-Happenings, den Verkauf von Bildbänden, Filmdokumentationen und Original-Graphiken finanziert sich das Spektakel. Mehrmals am Tag gleitet eine doppelstöckige Barke entlang der goldgelben Laufstege im See. Oben sieht man inmitten von VIP-Gästen und Fernsehteams den weissen Haarkranz des Maestro. Die Menge erkennt ihn, macht Photos, klatscht ihm zu, lässt den Meister mit Bravo-Rufen hochleben. Er geniesst den Blick auf seine reichlich bevölkerte Schöpfung, dann wendet er sich ab, weil das Fernsehteam ihn auffordert, in die Kamera zu sprechen, während im Hintergrund das „Christo 2016“ Event abläuft.

Es mag auf den ersten Blick elitär anmuten, die Romantik dieser Idee, die Begehbarkeit des Lago Iseo in Ruhe, ungestört von Lärm, Hektik und Menschen-massen erleben zu wollen. So, als spreche man sich dafür aus, Kunst sei eben nicht für jedermann. Doch liegt nicht ein Grossteil der Faszination des Projekts gerade darin, eine ganz besondere Art von Brücke zu schlagen, die einem erlaubt, über das Wasser zu spazieren, es mit seinen Füssen zu spüren? Also kein Trampelpfad für 50.000 Menschen am Tag, keine „Autobahn“ auf dem See mit Traffic Jam, Stau, Unfällen und „Autobahnpolizei“!

Die Krux von Christos Iseo-Happening ist es, einer-seits jedermann daran teilhaben lassen zu wollen, aber es dadurch auch für jeden einzelnen in seinem individuellen Erleben zu entwerten und zu einem Stück Massentourismus zu machen. Für den Maestro ist es ein wahrhaft grandioses Erlebnis. Der Erfolg seiner Anstrengungen und Überzeugungsarbeit, um diese Idee wahr werden zu lassen, die Genugtuung, ihre Realisierung in die Galerie seiner Werke einzu-reihen und das Privileg, es in stillen Momenten zu Beginn und am Ende des Projekts weitgehend allein oder in handverlesener Gesell-schaft geniessen zu dürfen, das gebührt ganz allein Christo.

Wer, wie ich, keinen so rechten Spass empfinden konnte, bei diesem Massenspektakel, der muss sich natürlich fragen lassen, was denn die Alternative wäre. Gerne ein verpackter Reichstag oder die saf-ranfarbenen Phantasie-Tore im New Yorker Central Park - aber bitte nicht zwei Wochen, in denen Hun-derttausende von Menschen durch das anmutige Tal und über die Wasser des Lago Iseo geschleust wer-den. Manchmal und an manchen Orten müssen Kunstwerke wohl eher von Dauer sein, damit sie jedermann zu einem angemessenen Moment zu-gänglich sind.

Share by: